Globale Geschichtenerzählerin
Schwarze und spiegelnde Quadrate wechseln sich ab, bedecken den gesamten Boden, fügen sich zu einem überdimensionalen Schachbrett. Darauf lebensgroße Figuren mit roter oder schwarzer Rückseite, die bunte Gegenbilder auf den Grund werfen. Doch wer genau ist hier zu sehen? Marie Antoinette, die 1793 enthauptete französische Königin, oder der 1914 ermordete habsburgische Thronfolger Franz Ferdinand lassen sich schnell identifizieren. Dazu Jean-Jacques Rousseau, Bertha von Suttner oder Sigmund Freud. Ein absurdes Kabinett historischer Figuren, das mit seinen Maskeraden an die Bilder des belgischen Malers James Ensor erinnert. Wer aber ist hier König, Dame, Bauer?
In „The Chess Game“ lädt Anna Boghiguian mit scheinbar leichter Geste auf das Spielbrett der Geschichte. In der erstmals 2022 in der historischen Scuola di San Pasquale in Venedig und später u.a. im Kunsthaus Bregenz präsentierten Installation lässt sich die Arbeitsweise der Künstlerin exemplarisch nachvollziehen. Oftmals verbringt sie im Vorhinein Zeit am jeweiligen Ausstellungsort, recherchiert zur ortsspezifischen Geschichte und entwickelt oder erweitert daraufhin ihre Werke. Dabei rückt sie spielerisch historische Figuren vor und zurück, um unsichtbare Fäden sichtbar zu machen, etwa von Marie Antoinettes Vorliebe für opulente Baumwollstoffe bis hin zur Haitianischen Revolution.
Im Kunsthaus Bregenz war 2022 Anna Boghiguians Installation „The Chess Game“ zu sehen. Foto: Markus Tretter; Courtesy of the artist, © Anna Boghiguian, Kunsthaus Bregenz
Nomadisches Künstlerleben
Der freimütige Blick auf historische Biografien bildet ein wiederkehrendes Element in Boghiguians Schaffen. Ein Beispiel dafür ist Friedrich Nietzsche, mit dessen angeblich von einem geschundenen Pferd ausgelösten Nervenzusammenbruch sie sich anlässlich einer Ausstellung in Turin beschäftigte oder dessen abwertende Haltung gegenüber Leprakranken sie in „Nietzsche and the Lepers“ zeichnerisch verarbeitete. Gänzlich düster wird es dagegen angesichts einer Figur wie Aribert Heim, Lagerarzt im KZ Mauthausen, unter den Häftlingen als Dr. Tod bekannt und einer der meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher. Nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierte er unter falschem Namen nach Ägypten, lebte dort bis zu seinem Tod unbehelligt in einem Hotel in Kairo. Eine Geschichte von besonderem Interesse für die Künstlerin, die 1946 in der ägyptischen Hauptstadt als Kind armenischer Eltern zur Welt kam.
In Kairo verbrachte Boghiguian ihre Kindheit und studierte dort bis 1969 Politik- und Wirtschaftswissenschaft an der American University, bevor sie für ein Studium der Bildenden Kunst und Musik an die Concordia University nach Montreal wechselte. Auf die breit angelegte theoretische Ausbildung folgten mehrere Jahre des Reisens, mit denen ein nomadisches Künstlerinnenleben begann. Ihre in Notizbüchern festgehaltenen Bilder, Collagen und Texte erwuchsen über die Zeit zu einer ganz persönlichen Landkarte der Welt. Sie bildete das bildnerische wie sprachliche Fundament für ein umfangreiches Werk aus figurativen Wandmalereien, Zeichnungen, Gemälden, Fotografien, großformatigen Installationen und über siebzig Künstlerbüchern, auf das Boghiguian heute zurückblicken kann. Dabei wirken die auf Segeltuch verzeichneten Salzhandelsrouten („The Salt Traders“, 2015) oder die blühenden Baumwollpflanzen zwischen kulissenhaften Zeichnungen („A Short Long History“, 2019) noch immer wie begehbare, subjektive Landkarten, auf denen die Künstlerin universale Zusammenhänge mit ihren persönlichen Erfahrungen verknüpft. Vergangenheit und Gegenwart, Literatur und Politik verschränken sich in ihrem Werk zu einem sensiblen Blick auf die Gegenwart einer global vereinten Menschheit und deren Optionen für die Zukunft.
Zeichnungen und Notizen ihrer zahllosen Reisen rund um die Welt hält Anna Boghiguian in ihren Reisebüchern fest. Foto: Markus Tretter; Courtesy of the artist, © Anna Boghiguian, Kunsthaus Bregenz
Feinfühlige Beobachterin
In den vergangenen Jahren fanden die kulturübergreifenden Arbeiten dieser herrlich unangepassten Künstlerin, die u.a. von der Berliner Galerie KOW vertreten wird, zunehmend internationale Anerkennung. Davon künden die Einladung zur Documenta 13 im Jahr 2012 sowie die Teilnahme an zahlreichen Biennalen. Boghiguian zählte auch zu den 16 Kunstschaffenden und Kollektiven aus der Diaspora, die sich auf der 56. Biennale von Venedig 2015 unter dem Label „Armenity/Haiyutioun“ mit der Geschichte ihrer Vorfahren und ihrer Identität auseinandersetzten und dafür mit dem Goldenen Löwen für den besten nationalen Pavillon ausgezeichnet wurden. Mit dem Wolfgang-Hahn-Preis der Gesellschaft für Moderne Kunst am Museum Ludwig folgt im November die nächste große Ehrung, die zugleich mit einer Ausstellung vom 9. November 2024 bis 30. März 2025 verbunden ist.
Was aber ist die besondere Qualität ihrer Arbeit? Vielleicht die Art und Weise, wie sich der unbedingte Drang nach Freiheit und der Protest gegen jede Form der Tyrannei in einer poetischen Bildsprache manifestiert. Da sind zum Beispiel Zeichnungen von Akteuren der französischen und russischen Revolution vor blutrotem Hintergrund zu sehen, Peter der Große und Wladimir Putin beim gemeinsamen Bad in der Ostsee oder Egon Schiele, wie er sich mit einer Maske vor der Spanischen Grippe schützt. Historische Querverweise, womöglich aktueller denn je. Der spiegelnde Bodenbelag in „The Chess Game“ fächert so das Personal der Weltgeschichte gleich im doppelten Sinne auf, lässt neue Perspektiven auf vermeintlich Auserzähltes zu. Was sich auf den ersten Blick als scheinbar harmlose Kulisse darstellt, entpuppt sich bei genauerer Beschäftigung als feinfühlige Observation vergangener Krisen und Konflikte, deren Spiralen der Gewalt sich bis heute fortsetzen. Oder um es mit den Worten der Künstlerin zu sagen: „Große Kunstwerke entstehen immer dann, wenn es eine krisenhafte Gesamtsituation gibt.“
Autorin: Julia Stellmann