Die Schönheit der Wurzeln
Wenn sich Malerei nicht sofort einordnen lässt, ist das ein gutes Zeichen. Melike Kara weiß zwar, woher sie kommt und wohin sie gehört, doch die Bilder, die aus dieser bewussten Verortung entstehen, sind erst einmal geheimnisvoll abstrakt anmutende Flächenerkundungen. In den aktuellen Arbeiten reiben sich kreiselnde Linien-Konglomerate und auswuchernde Farbfelder wild aneinander. Gewinnen muss hier keiner, eher geht es um ein Spiel, vielleicht sogar das Verbindende. Und tritt man etwas weiter zurück, scheint sich alles zu einem harmonischen Ganzen zu fügen.
Spricht Melike Kara über ihr Werk, fällt hin und wieder der Begriff „schön“ oder dass es etwas zu bewahren gelte, und dann ist man auch schon bei ihren kurdischen Wurzeln und der stetigen Auseinandersetzung mit dieser Kultur. Karas Großeltern sind in den 1970er-Jahren nach Deutschland eingewandert, doch erst in der fremden neuen Umgebung bekannten sie sich zu ihrer kurdisch-alevitischen Herkunft. Das konnte in der Türkei gefährlich werden, mindestens, jahrzehntelang war es verboten, überhaupt nur kurdisch zu sprechen.
In der deutschen Diaspora ließ Großmutter Emine jedenfalls Traditionen und Riten wieder aufleben – ihr Vater war noch Schamane in einem kleinen Dorf in Ostanatolien gewesen. Sie erzählte ihren Kindern und Enkeln die Geschichten der alten Heimat, so, wie es die Vorfahren von Generation zu Generation gepflegt hatten.
Auf der ART COLOGNE zeigt Jan Kaps Bilder von Melike Kara – oben „milli“ aus dem Jahr 2024. Courtesy of the artist and Jan Kaps, Köln; Foto: Simon Vogel
Kulturelle Codierungen
Für Melike Kara, die 1985 im bergischen Bensberg geboren wurde, gehört die kurdische Kultur mit ihren Märchen, ihrer Spiritualität, mit ihrem fernen Zauber von klein auf ganz selbstverständlich dazu. Gerade die Großmutter war für sie eine entscheidende Bezugsperson, das wurde durch Karas viel beachtete Installation „shallow lakes“ in der Schirn besonders deutlich. Für die Rotunde der Frankfurter Kunsthalle hat die Künstlerin im Februar 2024 eine Art begehbares Archiv auf mehreren Ebenen geschaffen. Basis der Arbeit waren historische und zeitgenössische Fotografien, die die 39-Jährige verfremdet hat, meistens gebleicht, um sie in eine einheitliche Optik zu überführen. Und da taucht neben anderen Verwandten, Freunden und einer hochschwangeren Melike auch ihre Großmutter auf.
Aus all diesen Fotografien ist eine raumgreifende Collage entstanden, kombiniert mit Skulpturen sowie Pavillonarchitekturen, die beim Gang durch die verschiedenen Ebenen in eine Geschichte aus Migration und Exil führen. Bei Kara wird die eigene Familie mit ihrem überbordenden kulturellen Gepäck zum Muster für viele dieser Schicksale, und das betrifft längst nicht nur die schmerzlichen, sondern genauso die freudvollen Seiten.
Nach Einzelausstellungen im Yuz Museum Shanghai (2018), im Rotterdamer Witte de With Center (2019) oder in der Kunsthalle Sankt Gallen (2023) war der Auftritt in der Schirn ein vorläufiger Höhepunkt in Karas Schaffen, zumal die Installation auch ihre Vielseitigkeit und das fast nonchalante Zusammenführen verschiedener Genres gezeigt hat. Das funktioniert zunächst auf einer rein ästhetischen Ebene, wer sich auf die Inhalte einlässt, erlebt dagegen einen im doppelten Wortsinn aufregenden Rückblick auf ein heterogenes Volk, das sich selbst im Zuge von Verfolgung und Repression nie aufgegeben oder die kulturellen Codierungen vergessen hätte.
Ansicht der Installation „shallow lakes“ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2024. Courtesy of the artist; Schirn Kunsthalle Frankfurt, Frankfurt am Main; Jan Kaps, Köln, Foto: Mareike Tocha
Erinnerung ist nie eindimensional
Für Melike Kara, die bei Rosemarie Trockel an der Düsseldorfer Kunstakademie studiert hat, sind Teppiche und alles, was damit zu tun hat, ein wichtiges Stilmittel, das sich durch ihr ganzes Œuvre zieht. Im intensiven Zusammenspiel mit der Architektur hingen im Aachener Haus Ludwig des Sammlerpaares Peter und Irene Ludwig bis Ende Oktober noch 400 handgeformte silberne Elemente, die die modifizierten Vorlagen kurdischer Weberinnen wiedergeben. Modifiziert deshalb, weil die zwangsumgesiedelten Frauen neue Eindrücken und Formen in die Ornamentik ihrer alten Heimat aufgenommen haben.
Dieser Prozess hat im Grunde auch etwas mit der Malerei Karas zu tun. Sie geht von mehr oder weniger kurdischen Schmuckformen aus, die sie alsbald in ihrem freien gestischen Pinselduktus aufgehen lässt. Neue Werke sind auf der ART COLOGNE zu sehen, wo Melike Kara von Jan Kaps präsentiert wird. 2013 hat der gebürtige Düsseldorfer mit nur 25 Jahren seine Galerie in Köln gegründet, damit zählt er immer noch zu den Jungen im Metier. Kaps vertritt bewusst Künstlerinnen und Künstler seiner Generation, die aktuelle Themen aufgreifen und sich an Diskursen im internationalen Kontext beteiligen. Das darf gerne laut und knallig sein. Oder eine Mischung von allem. Gerade Erinnerung verläuft nie eindimensional, sondern in Verknüpfungen – wie bei Melike Kara.
Autorin: Christa Sigg