Taugt Kunst zur ethischen Wertschöpfung?
Die Frage nach den in der Kunst vermittelten Werten ist eine der wichtigsten Debatten in der Gegenwartskunst der letzten Jahre. Für nicht wenige Kritiker und Kritikerinnen wird Kunst derzeit zu sehr nach moralischen Maßstäben beurteilt, nach einer neuen political correctness: Postkolonialismus, #metoo oder toxisches Sponsoring. Dabei ist die Kunst ein Raum der Freiheit und viele Künstler und Künstlerinnen verstehen sich als Tabubrecher. Die documenta fifteen und das dort gezeigte Bild „People‘s Justice“ von Taring Padi mit dessen antisemitischen Darstellungen von Figuren hat gleichzeitig eine bislang einmalige öffentliche Diskussion über Inhalt und Grenzen der Kunstfreiheit ausgelöst. In dem Talk „Die Kunst als Wertesystem. Ist noch Verlass auf die Kunst?“ wurde diskutiert, ob ein neuer Kunstbegriff notwendig, oder überflüssig sei.
Nach Meinung von Kunstkritiker Oliver Koerner von Gustorf habe sich die Kunstszene in unterschiedliche Richtungen entwickelt, was realistisch zu Kenntnis zu nehmen sei. Spätestens nach Donald Trumps Wiederwahl sei deutlich geworden, dass Kunst als moralisches Wertesystem versagt habe. Trotzdem sollte man an den Freiräumen der Kunst festhalten. Bezüglich der Antisemitismus-Debatte sollte man von Fall zu Fall beurteilen, ob Antisemitismus vorliege und nicht mit dem Werkzeug einer Resolution. Das gelte für alle brisanten Themen. Man könne nicht mehr nur auf der richtigen Seite stehen. Dies ist ein Dilemma, das auch interessante Weiterentwicklungen mit sich bringen kann.
Heinz Bude, emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Kassel und Gründungsdirektor des documenta Instituts, meinte, man müsse sich erstmal darauf einigen, dass es Antisemitismus in Deutschland in drei Formen gibt. Den alten Antisemitismus, der immer noch manifest ist. Den Antisemitismus, der aus der Linken kommt und einen muslimischen Antisemitismus. Man dürfe nicht darum herumreden, dass es diese drei Formen nicht gibt. Dem widersprach der Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen: Man sollte dringend darüber diskutieren. Bude fand es wichtiger zu fragen, wie man damit umgehe. Dass sich Parteien darüber Gedanken machen müssen, hänge mit der besonderen Form der deutschen Staatlichkeit zusammen. Die wichtigsten politischen Kräfte sagen in ihrer Mehrheit, das Existenzrecht Israels müsse bedingungslos gewährleistet bleiben.
Überbevölkerung im Kunstbetrieb
Auf die Frage, warum es immer noch die Meinung gibt, in der Kultur müssten bestimmte Werte hochgehalten werden, antwortete Diederichsen, es gäbe ein Milieu, das die Kultur trägt und sich in vielen Punkten einig sei. Wenn künstlerische Projekte versuchen in die Realwelt zu greifen, bekommen sie Lob, weil man sich über die Ziele einig ist. Beim Antisemitismus-Streit gäbe es diese Einigkeit nicht. Deswegen tobe da gerade ein Kulturkampf. Ohnehin sei die Beschreibung von Kunst als Wertesystem kurios. Es sind die Beteiligten, die Werte haben und sich sogar einig sein können. Die Frage sei eher, wie wandelt sich das Milieu? Dass sich etwas wandelt, hat damit zu tun, dass die materiellen Grundlagen prekärer werden und im Bereich der Kunstproduktion und des Marktes neue Akteure dazugekommen sind. So gerate die ganze Gemengelage in Bewegung.
Bude konstatierte darauf eine Überbevölkerung im Kunstbetrieb, es gäbe nicht genug Stellen oder Möglichkeiten. Man müsse darüber nachdenken, was man mit all den Absolventen von Kunstakademien mache. Das Feld professionalisiert sich, etwa durch die Vergabe von Promotionen. Trotzdem fragen ihn viele, ob die Kunst noch eine Zukunft habe, weil sie selbst daran zweifeln. Deshalb sei er sich nicht sicher, ob es immer noch dieses konstante Milieu gäbe. Diederichsen bestätigte, dass die Zahl der Teilnehmenden am Kunstsystem in den letzten zwei Jahrzehnten enorm zugenommen habe, aber gleichzeitig auch das Volumen des Marktes. Die Anzahl derjenigen, die kaum bezahlt werden, auf Vernissagen herumstehen und Teil der Wertbildung sind, die habe definitiv zugenommen. Je mehr solche „Sexiness“ generiert werden könne, desto besser laufe es für den Kunstmarkt. Dies funktioniere aber nur, wenn das System weiterwächst. Im Moment wachse es nicht.
Trotzdem blieben viele, so Bude, dem System trotz Ausbeutung weiter treu. Sie möchten teilhaben an etwas, was als wertvoll erachtet wird. Er glaube, nach der neuerlichen Wahl in den USA müssten einige Dinge überdacht werden. Die Vorstellung, dass Kunst eine Teilhabe habe an einer bestimmten Sicht von antipolitischer Politik, diese Vorstellung sollte zu Ende gehen. Das sei ein grundsätzlicher Prozess, der das Gesellschaftsbild betreffe. Die Vorstellung einer alternativen Gesellschaft, die nicht mehr Mehrheitsgesellschaft ist, habe keine Entsprechung mehr in der realen Politik. Er sehe die Kunst ziemlich verloren angesichts dieser Entwicklung hin zurück zur Mehrheitsgesellschaft.
Autorin: Alexandra Wach