Unendlicher Spaß - Teil 1
Kinderlachen schallt durch den Ausstellungsraum. Das hört man nicht oft im Museum.
In seiner fortlaufenden Videoserie »Children’s Games« dokumentiert der 1959 in Antwerpen geborene Künstler Spiele auf der ganzen Welt. Das Ausstellungshaus Wiels in Brüssel zeigt nun eine Auswahl der oft nur wenige Minuten dauernden und doch sehr wundervollen Filme.
Die Schau »The Nature of the Game« ist ein ebenso einprägsames wie beglückendes Erlebnis: Wir sehen Kinder beim Toben im Schnee der Schweizer Alpen. Auf der Leinwand gegenüber saust ein Junge in einem Autoreifen den schwarzen Schlackeberg seiner Heimatstadt Lubumbashi hinab. Ein kleines Mädchen hüpft durch das Gewusel von Hongkong. Und auf einer einsamen Landstraße veranstalten belgische Kinder ein Schneckenrennen.
Der leise Humor in den Arbeiten erinnert an Alÿs’ frühe Werke, die ihn international bekannt machten: In seinem Video »Paradox auf Praxis 1 (Sometimes Making Something Leads to Nothing)« beispielsweise schob er 1997 einen großen Eisblock durch die Straßen von Mexiko-Stadt – seiner Wahlheimat seit Jahrzehnten –, bis das Eis komplett geschmolzen war. Für seine nicht nur poetischen, sondern oft auch politischen Videoarbeiten und Malereien erhält Alÿs am 17. November in Köln den Wolfgang-Hahn-Preis.
Im Film »Children’s Game #30: La Roue«, der 2021 in der Demokratischen Republik Kongo entstand, rollt ein Junge mühsam einen Reifen einen Berg hinauf – und rast dann darin hinab. Copyright: Francis Alÿs/Courtesy of the galleries Peter Kilchmann, Jan Mot and David Zwirner
Herr Alÿs, mit welchem Spiel haben Sie sich selbst als Kind am liebsten die Zeit vertrieben?
Francis Alÿs: "Ich mochte das Versteckspiel. Als ich ein Kind war, spielten wir es nachts. Es war also eine ziemlich unheimliche Erfahrung. Die Sucher hat-ten Taschenlampen. Und aus diesem Aufeinandertreffen von Licht und Schatten ist etwas in meinem Inneren zurückgeblieben: Sie müssen verste-hen – ich bin ohne Fernsehen oder Kino aufgewachsen. Meine Familie hat das alles abgelehnt. Aber das Verstecken in der Nacht wurde zu meinem Lichtspielmoment: Ich war im Dunkeln verborgen, beobachtete die Jäger beim Suchen und blickte dabei auf die Schatten und die Projektion von Bil-dern auf den Bäumen. Sie haben in meiner Fantasie das Kino erschaffen."
In Ihrem ersten gefilmten »Children’s Game« aus dem Jahr 1999 sieht man über viereinhalb Minuten einem Jungen dabei zu, wie er eine Plastikflasche eine lange, ansteigende Straße hinaufkickt. Hatten Sie damals schon die Idee, daraus eine Serie zu machen, die Kinderspiele auf der ganzen Welt dokumentiert?
Francis Alÿs: "Nein, denn die ersten Videos entstanden einfach nur als Entsprechung oder Parallele zu anderen offiziellen Projekten. Den von Ihnen angesprochenen Film »Caracoles« zum Beispiel drehten wir in der Vorstadt von Mexiko-Stadt, wo wir auch die Videoserie »Rehearsal« filmten …"
… in der Sie immer wieder vergeblich versuchen, einen roten VW Käfer ei-nen steilen Hügel hinaufzufahren.
Francis Alÿs: "Richtig. Genauso war es bei den anderen »Children’s Games«: Der Film »Sandcastles« bezieht sich auf das Projekt in Lima. »Stick and Wheels« nahmen wir in Afghanistan vor dem Film »Reel–Unreel« (2011) auf, bei dem ein paar Jungen in den Straßen von Kabul eine Rolle Film abspulen. Am Anfang war das Filmen von Kindern und Kinderspielen eine Möglichkeit, um mit Menschen in Kontakt zu kommen. Als zeitgenössischer Künstler wird man oft gebeten, einen Kommentar zu Orten abzugeben, mit denen man kulturell nichts zu tun hat. Als ich das erste Mal nach Afghanistan eingeladen wurde, war das Drehen mit Kindern eine Abkürzung, um Kontakt herzustellen und die kulturellen Codes zu verstehen: Was kann ich filmen, was kann ich nicht filmen? Wer stellt sich vor die Kamera für ein Projekt? Wer spricht mit Fremden? Es war ein unkomplizierter Ansatz, um an einem neuen Ort ein Gespräch zu eröffnen."
Wie wurde daraus nun ein eigenes Projekt?
Francis Alÿs: "Irgendwann in den Jahren 2017/2018 – ich hatte damals vielleicht 15 der »Children’s Games« gedreht – realisierte ich, dass ich eine Zusammenstellung ganz unterschiedlicher Videos geschaffen hatte mit traditionellen Spie-len, neuen Spielen und verschiedenen kulturellen Landschaften. Gleichzeitig fiel mir auf, dass die spielenden Kinder immer mehr aus den öffentlichen Räumen verschwanden. Offensichtlich wurde es während der Pandemie. Aber die Entwicklung begann schon früher. Sie hat verschiedene Gründe wie die Omnipräsenz des Autos in den Stadträumen oder den Siegeszug von Social Media. Vor allem aber liegt es an der Angst der Eltern, ihre Kinder zum Spielen auf die Straße zu lassen. All das weckte in mir den Wunsch, diesen Prozess der Veränderung zu dokumentieren, und machte das Projekt umso dringlicher."
»Game #22: Jump Rope« filmte Alÿs 2020 in Hongkong. Die seilspringenden Mädchen überbieten sich gegenseitig mit ihren atemberaubenden Tricks. Copyright: Francis Alÿs/Courtesy of the galleries Peter Kilchmann, Jan Mot and David Zwirner
Wie wählen Sie die Spiele aus?
Francis Alÿs: "Oft sind es Anregungen von Menschen vor Ort. Bei meiner Ausstellung in Kopenhagen im vergangenen Jahr etwa schlugen die Kuratorinnen mir »Kluddermor« vor."
Das ist einer der zwei neuen Filme aus Kopenhagen, bei dem sich ein Dut-zend Kinder an den Händen fasst und die Arme zu einem schier unentwirr-baren Knoten verknäult?
Francis Alÿs: "Ja, das passte gut in die Serie. Aber nach anderen Spielen suche ich ganz ge-zielt. Wie im Fall von »Kisolo«, einem Film, den wir 2021 in der Demokrati-schen Republik Kongo gedreht haben. Kisolo ist ein uraltes Spiel mit Mulden und Steinen. Es soll 3500 Jahre alt sein. Als wir in den Vorstädten von Lubumbashi danach suchten, sahen wir oft Erwachsene, die es spielten. Kinder zu finden, die Kisolo kannten, war dagegen schwierig. Das ist ein Wissensverlust in nur einer Generation! Da wurde mir klar: Ich muss versu-chen, möglichst viele dieser verschwindenden Spiele zu dokumentieren."
Es gibt aber auch Spiele, die aktuelle Phänomene aufgreifen: Zwei neue Videos in der Ausstellung zeigen Kinder in der Ukraine, die Straßensperren errichten oder mit ihren Stimmen Alarmsirenen imitieren. Wie kam es zu diesen Filmen?
Francis Alÿs: "Eine der Kuratorinnen, mit der ich 2016 für die Manifesta in Sankt Petersburg zusammengearbeitet habe, entpuppte sich als Ukrainerin. Zu Beginn der russischen Invasion schrieben wir einander, und sie erzählte mir von den Spielen. Es war ein selbstverständlicher Schritt, ihrer Einladung zu folgen und das Geschehen festzuhalten. Gerade der Film »Parol« ist besonders, weil er zwei neue Elemente enthält: Eines davon ist, dass es sich hier erstmals um ein Wortspiel handelt."
Die Kinder stoppen Autos, deren Insassen dann eine Parole sagen müssen, die russischsprachige Menschen nicht richtig aussprechen können. Es ist das Wort für »Brot«.
Francis Alÿs: "Die Erwachsenen werden damit – wenn auch passiv – zu Teilnehmern im Spiel. Das ist das zweite neue Element."
Gibt es nicht noch ein drittes? Es ist ein »Children’s Game«, das Sie direkt in einem Krieg aufgenommen haben.
Francis Alÿs: "Auch die Filme in Afghanistan und Irak entstanden im Umfeld bewaffneter Konflikte. Hier allerdings ist der Krieg die Ursache, die dieses spezifische Spiel hervorbringt. Zudem ist es ein Nachahmespiel: Es gibt noch einen offiziellen Checkpoint 300 Meter weiter die Straße entlang. Die Kinder kopieren also die Realität – die reale Welt der Erwachsenen – einerseits, um ein Teil davon zu werden und ihre Solidarität mit der nationalen Sache zu zeigen, und andererseits, um sich ihr Recht auf Spiel und auf ein eigenes Territorium wieder anzueignen."